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Schreckenstage
in Moskau
Was unsere Eltern in jenen Novembertagen erlebt haben
anhand von Berichten
der Mennonitischen Rundschau
Seite 1
Ich lege nun eine kurze Pause ein in den Berichten der Abenteuer jener Mennoniten, die zum Turquestan gezogen sind, um in einigen Folgen die Berichte unserer Eltern und Grosseltern in jenen Schreckenstage im November 1929 in Moskau zu berichten anhand von Briefen und Berichten in der Mennonitischen Rundschau. Das jeweilige Datum ist nach dem Bericht angegeben.
Der erste Bericht wird von einem Prediger geschrieben, wohl noch im Oktober, vielleicht sogar im September, denn ein Heinrich Janzen, in den USA, hat ihn an die Rundschau geschickt, die den Brief in ihrer Ausgabe vom 6. November gedruckt hat.
Weil die Verhältnisse in Russland und besonders in Sibirien gegenwärtig so unaussprechlich traurig sind, besonders für Prediger des Evangeliums, und ich in diesem Beruf den Gemeinden in großer Schwachheit viele Jahre gedient hatte, so kam man bei der kommunistischen Regierung in besonderer Weise in Betracht. In Halbstadt, Sibirien, wo man jetzt eine Polizeistation hat, steht auf einer großen Tafel, die in ihrer Kanzlei an der Wand hängt, geschrieben: „Gehörigen Widerstand leisten gegen alle Pfaffen jeglicher Nationalität.“
Bei diesen Unmenschen bin ich als Leiter der Gemeinde oft im Verhör gewesen und man hat unser Haus ganz durchstöbert, um etwas Verdächtiges zu finden, um mich einsperren zu können. Doch der Herr hat letztendlich nicht zugelassen und gab uns ins Herz, mit der Auswanderung nach Kanada zu versuchen. Als wir in Slawgorod um die Auslandspässe wirkten und selbst keine erhielten, zogen wir im Märzmonat nach Moskau, wo wir nach fünfmonatlichem Werben unter vielen Kämpfen eine unverdiente Gebetserhörung machen durften, dass der Herr uns die Pässe zuteil werden ließ.
Wohl einige Familien hatten vor uns die Pässe bekommen und wir gehörten zu der zweiten Gruppe, welche aus 25 Familien bestand. Drei Familien mussten in Moskau wegen gesundheitlicher Gründe vorläufig zurückbleiben und 22 Familien durften am 30. August von Moskau abfahren, nach Kanada. Aber leider gab es in Samara, wo wir ärztlich untersucht wurden, noch einen Schmerz. Die halbe Gruppe, 11 Familien, mussten zurückbleiben. Möge der Herr, dem es ein Leichtes ist, jede Krankheit zu heilen, die Lieben auch bald herführen.
Wir landeten am 28. September in Quebec und kamen am 9. Oktober bei Geschwister Franzen, Bruder meiner Frau, auf Coaldale an. Drei unserer Töchter, welche verheiratet sind, sind noch in Russland, die dritte ist mit ihrem Mann Korn in Moskau und wartet mit vielen anderen wohl schon 250 Familien, wann sich das Wasser bewegen möchte.
Den Predigern, welche nicht gleich im Frühling die Ansiedlung verließen, auch vielen anderen, hat man viel weggenommen, so dass manche schon nicht einmal bis Moskau fahren können, dort noch eine Zeitlang leben und auch die Pässe, welche 220 Rubel kosten, bezahlen können. Wer noch ein paar Rubel überhält, kann selbige doch nicht über die russische Grenze nehmen, so dass wir hier alle ganz arm angekommen sind. Dazu ist der Winter vor der Tür und schon nicht Arbeit zu finden. Aber der Herr verlässt ja die Seinen nicht. Nun, ich glaube, alle Leser dieser unvollkommenen Zeilen finden Stoff genug, für die in Russland weilenden Mennoniten, unsere Brüder und Schwestern, zu beten, dass der Herr noch viele herausführen und die Lage der Dortbleibenden ändern möchte, und uns hier zum Segen setzen.
Heinrich Janzen , Kanada 1929-11-06
Prediger Heinrich Janzen, schon in Kanada angekommen, schreibt den obigen Brief. Er spricht davon, dass die "Verhältnisse in Russland unaussprechlich traurig sind, besonders für Prediger". In einer Polizeistation habe er eine Tafel gesehen mit der Aufschrift, dass die Polizei "Pfaffen jeglicher Nationalität" grossen Widerstand leisten solle.
Slawgorod liegt im Innersten Asiens, 3000 Km von Moskau entfernt. Sie sind schon im März, im Frühling nach Moskau gegangen und haben dort 5 Monate um ein Auslandsvisum gewirkt.
Man kann es sich ja gut vorstellen, dass Prediger im Allgemeinen nicht die ersten sein wollten, die ihre Herde verlassen. Solche, die es aber nicht getan haben, denen hat man das Geld weggenommen und nun können sie das hohe Geld für den Kauf von Pässen ins Ausland nicht bezahlen.
Im nächsten Bericht folgt ein weiterer Hinweis, warum es so lange gedauert hat, bis die Mennoniten Russlands einsahen, dass Nordamerika ein gutes Auswanderungsland wäre:
Als im Anfang der siebziger Jahren die Mennoniten in Südrussland den aufgelegten Militärdienst nicht annehmen wollten, sagte ein Onkel in Rückenau, als die Auswanderung nach Amerika schon geplant wurde: „Es ist gut auszuwandern, aber nicht ins Abendland (Amerika), sondern ins Morgenland.“ Viele Mennoniten und Lutheraner dachten auch so, und doch zogen viele auf sehr mühsamem Weg nach Asien.
1929-11-13
Die Mennoniten, die nach Turquestan zogen, waren also nicht solche, die irgendwelchen Hirngespinsten folgten. Es lag allgemein im Denken der damaligen Zeit, dass das Innerste Asiens ein besserer Siedlungsort wäre als Nordamerika.
In der Ausgabe vom 13. November steht ein "dringender Aufruf" der Rundschau:
Dringender Aufruf und Bitte, dass in Moskau etwa 5000 mennonitische Flüchtlinge, meistens aus Sibirien, dann aber auch aus der Krim, vom Kuban, Orenburg und anderen Teilen Russlands, weilen. Nur die reinste Verzweiflung kann sie zu diesem Schritt bewogen haben. Die Nachrichten über die Behandlung in den Kolonien sind erschütternd. Wir können auf die Einzelheiten hier nicht eingehen, vielleicht geht das später einmal. Durch Vermittlung der deutschen Regierung und wohl der Not gehorchend, gestattet die russische Regierung die Ausreise dieser Leute. Ob sie in Kanada einreisen können, ist bis jetzt noch nicht ganz sicher, da die kanadische Immigrationsbehörde vor kurzem neue Bestimmungen getroffen hat, welche die Einwanderung mittelloser Leute bedeutend erschweren, doch hoffen wir die Erlaubnis zu erlangen. 400 Personen sollen schon auf dem Wege nach Kanada sein, trotzdem die Einreiseerlaubnis hierher noch nicht geregelt ist.
Wir werden natürlich alles irgend Mögliche tun um diesen Leuten zu helfen, doch wissen wir, dass die Sache nur unter dem Beistand Gottes gelingen kann. Wir empfehlen die Armen drüben und auch uns, die wir in dieser Sache zu arbeiten haben, der besonderen Fürbitte der Gemeinden. Ich hoffe, dass niemand und keine Gemeinde untätig und kalt bleiben kann angesichts dieser Notlage.
Wir hoffen, dass unsere Gemeinden in Kanada wieder bereit sein werden, aufzunehmen, und wir hoffen, dass unsere Gemeinden in den Vereinigten Staaten uns in jeder möglichen Weise unterstützen werden. Denn wenn hier im Winter sollen 5000 Personen aufgenommen werden, dann bedeutet das eine Riesenaufgabe für unsere Leute in Kanada. Unser ganzes Volk in Nordamerika wird dadurch auf eine Probe gestellt, die wir bestehen müssen, die wir aber nicht bestehen können, wenn wir uns nur auf eine irdische Kraft verlassen.
Also bitte, liebe Brüder und Schwestern, denkt an die Armen, die Witwen, die Waisen, die vollständig mittellos dastehen. Lasst uns ohne Verzug Zeit, Geld und leider opfern für die, die von allem entblößt sind. Vor allem aber lasst uns mit festem Glauben den anflehen, der von sich gesagt hat: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Lasst uns stark sein in der Liebe und im Glauben. David Tows.
1929-11-13
Die Herausgeber der Rundschau sind sich an diesem 13.11. noch nicht im Klaren über die genauen Verhältnissen in Moskau. Man hat gehört von 5 tausend Flüchtlingen und dass die "Behandlung in den Kolonien erschütternd seien".
Dass die kanadische Immigrationsbehörde dadurch verunsichert ist, so viele Immigranten aufnehmen zu können, ist uns heute verständlich. Die Rundschau appeliert, "dass niemand und keine Gemeinde untätig und kalt bleiben" möge angesichts dieser Riesenaufgabe.
Mennoniten erhalten Pässe, um nach Kanada auszuwandern.
Die Manitoba Free Press hat von der Special Limited News Cable folgende Nachricht vom 5. November aus Moskau, Russland erhalten: „3000 sibirische Bauern deutschen Ursprungs, meistens Mennoniten, haben Pässe erhalten, um nach Kanada auszuwandern. Ehe sie die Pässe erhielten, haben die Sowjetbehörden alle Steuern von ihnen enthoben und den Betreffenden klargelegt, dass die Emigranten alle ihre Gelder der Sowjetbank überliefern müssen, da die Ausfuhr von russischen Rubeln verboten ist. 7000 der Auswanderungswilligen haben sich in und um Moskau konzentriert, und es werden ihnen 100 Pässe pro Tag ausgeliefert.“
Premier Anderson von Sask. über die projektierte Einführung von Mennoniten. „ ... dass man mit der Regierung von Saskatchewan erst beraten solle, ehe man die 5000 mennonitischen Flüchtlinge, die gegenwärtig aus Moskau ausgewiesen werden, hierherüber bringt. [...]“ 1929-11-13
Der folgende Brief kommt von einer Frau in einem mennonitischen Dorf in Russland, den sie an einen Verwandten in Kanada geschickt hat und den dieser an die Rundschau vermittelte:
Lieber Geschwister!
Ich möchte euch heute mal besuchen kommen. Wir wollten sonst nach No. 5 zur Kirche fahren, aber es regnet schon eine ganze Woche, sodass wir unmöglich fahren können. Dort wird heute Ältesten Isaak Dycks Begräbnis gefeiert, der vor 2 Wochen gestorben ist. Lange war es trocken, sodass es uns schon viel zu lange dauerte mit dem Winterweizen säen. Haben unsere paar Hektar eingesät. Ach, wenn wir doch auch einmal nach Amerika könnten, aber wir haben die Hoffnung schon aufgegeben, denn in den Zeitungen steht: Wer um Ausreise wirbt, wird ausgewiesen, so wie die Prediger und wer weiß, wohin? – Doch wohl nach Sibirien. Dann soll demjenigen auch alles weggenommen werden. Es ist doch aber traurig in Russland! Unser Peter ist schon seit 2 Wochen in Chortitza. Er wollte immer lernen und jetzt haben wir es ihm erlaubt. Er bangt sich sehr. Besonders nach dem elterlichen Tisch, dort gibt es Brot. Sonntag müssen sie zur Schule gehen und Mittwoch ist Ruhetag.
A. Enns hat schon viel Geld verspielt. Er will immer nach Amerika, hat schon zweimal seine Wirtschaft verkauft und jetzt hat er schon die dritte.
Jetzt sollen wir immer Obligationen kaufen. Das sind Lose, die jeder "freiwillig" kaufen muss. Auf unsere Dörfer haben sie 5000 Rubel gelegt. Auf die anderen 4 Dörfer weiß ich nicht. So, so werden wir gequält und das heißt dann noch „freiwillig“.
Nun ging unser Schulze rund und hat so gebettelt, dass die Leute doch kaufen sollten, aber es half fast nichts. Wir versprachen 50 Rubel. Jetzt hat die Regierung die Zahlung in jedem Dorf von etlichen Männern gefordert. In unserem Dorf von 6 Mann. Diese sollen die Lose verkaufen oder sie müssen alles allein bezahlen. Dazu haben sie die reichsten ausgesucht. Glücklicherweise ist A. nicht darunter. Wir passen schon sehr auf, dass wir nicht unter die Reichen kommen. Hein und Mutter wollten haben, wir sollten ihre paar Hektar pachten. Wir taten es auch, aber es bleibt unter ihrem Namen und sie beackern es umsonst. Aber wegen dem vielen Vieh (4 Pferde und 3 Kühe) hat der Beamte sehr gezweifelt, ob wir nicht auch zu den Reichen gehörten und die Lose übernehmen müssten.
A. hat sich einen Anzug gekauft zu 41 Rubel und Schuhe zu 25 Rubel. Zeug ist fast nicht möglich zu kriegen. Es gibt nur 2 Meter auf die Seele und das soll 3 Monate reichen. Zucker gibt es nur 1 Pfund den Monat. Hein ging einen Tag, dann war kein Zucker. Den nächsten Tag fuhr er, dann standen etwa 50 Mann angereiht. So lange konnte er nicht warten und kam nach Hause ohne Zucker. Den dritten Tag ging er wieder, dann war schon wieder keiner. So geht es uns. Wenn wir mal hören, dass welcher da ist, fahren wir auch gleich, aber bis wir die 7 Werst übergefahren sind, ist schon alles wieder weg.
Im Frühjahr war kein Geld zum Bauen. Seitdem sind keine Bretter. Einmal waren welche, dann wussten sie nicht den Preis. Um eine Woche sollte er kommen. Auch wir brauchten ein paar dicke Bretter zum Kellerboden. Immer waren keine. Mit einmal kommt Hein und sagt: „Jetzt sind dicke Bretter in Arkadak.“ Sofort spannte A. vom Winterweizensäen aus, die Pferde vor den Wagen als wir hinkamen, war alles wieder weg. Nägel sind schon lange keine mehr zu kaufen. Freitag waren Nägel gewesen. Hatten aber nur 2 Pfund auf den Mann gegeben. Sonnabend morgens nahm W. beide Eimer mit und jeder sollte 2 Pfund kaufen, aber dann waren wieder keine. So geht es mit aller Ware.
An die Städter dürfen wir kein Korn verkaufen. Die stehen von 2 Uhr nachts an in der Schlange nach Brot. Und wenn wir morgens mit Weizen fahren, stehen noch immer lange Schlangen nach Brot, obwohl es Brot im Überfluss gibt.
Diese Woche Freitag fing die Schule an. Donnerstag lud der Lehrer die Eltern ein, um noch einige Fragen zu beantworten. Er fragte, ob sie damit einverstanden seien, wenn in diesem Jahr am Sonntag Schule sei und Mittwoch Ruhetag. Wir Frauen waren alle sehr dagegen. Als es zu keiner Einigung kam, sagte er, dass alle eine Strafe zahlen würden, welche ihre Kinder am Sonntag nicht zur Schule schicken würden. Die frechen Frauen würden am meisten zahlen – bis zu 200 Rubel. Dann verstummten wir allmählich. N. meint, wir werden schicken, denn wir können nicht zahlen.
(Eingesandt von B. Unger, Swift Current, Sask.)
1929-11-13
Sie wollte so gerne auch ausreisen, aber sie habe es aufgegeben. Von ihrem Sohn erfährt sie, dass die Schüler "Sonntag zur Schule gehen müssen und Mittwoch jetzt der Ruhetag" sei. Und wer seine Kinder am Sonntag nicht zur Schule schickt, muss Strafe zahlen.
Nun hat die sowjetische Regierung dem Dorfsverwalter aufgezwungen "Obligationen" unter den Bewohnern zu verkaufen. 5000 Rubel soll er einbringen, aber die verarmten Bewohner können ihm nicht helfen. Sie hat Angst zu den "Reichen" gerechnet zu werden denn sie haben "4 Pferde und 3 Kühe".
Zucker gibt es nur ein halbes Kilo pro Monat. Es gibt kaum etwas zu kaufen, was sie brauchen. Wenn sie mal davon hören, dass es etwas gibt, jagen sie hin, aber das bisschen Ware ist dann schon wieder ausverkauft.
In der nächsten Meldung folgt ein "Aufruf" der mennonitischen Rundschau an alle Leser in Nordamerika mit der Bitte, sich doch darauf vorzubereiten die vielen tausend ankommenden Mennoniten aufzunehmen:
Aufruf an alle Mennoniten
Angesichts der Lage unserer Brüder in Moskau richten wir hiermit an alle Gruppen der Mennoniten die Bitte, sich organisieren zu wollen und uns umgehend zu berichten, wieviel Personen oder Familien von den kommenden Mennoniten eine jede Gruppe wohl würde aufnehmen können. Weiter möchten sich diejenigen bei uns melden, die unter den Wartenden in Moskau Verwandte haben.
MR 1929-11-20
Als Vorhut von mehr als 10.000 deutschen Siedlern in Russland, die sich dort vor 150 Jahren niedergelassen haben und jetzt nach Kanada und Argentinien auswandern, sind in Kiel 323 Auswanderer angekommen. Sie behaupten, all ihr Geld sei ihnen von russischen Sowjetbeamten abgenommen worden.
Die Kieler Blätter fordern die deutschen Behörden auf, die Ansiedlungskosten für die Auswanderer zu übernehmen, zumal die russische Regierung von den deutschen Behörden verlangt hat, die Ausstellung von Reisepässen für die Auswanderer innerhalb von 48 Stunden zu genehmigen. Die deutsche Regierung wird voraussichtlich damit einverstanden sein, um die Abreise der Auswanderer von Hamburg nach Kanada und Südamerika zu beschleunigen.
1929-11-20
Wenn die Rede von Südamerika ist, denkt man immer an Argentinien. Das war damals das reichste und fortgeschrittendste Land Südamerikas und eines der reichsten der Welt.
Hier lesen wir jetzt den Appell eines eben in Nordamerika eingewanderten Mennoniten, der noch nicht das Geld aufbringen kann, seinem Bruder in Russland die Aus- und Überseereise zu bezahlen:
Ich komme im Auftrag eines mir sehr lieben Bruders aus Russland. Er möchte auswandern, hat aber auch, wie die meisten, nicht mehr die Mittel dazu. Er hat mich wiederholt gebeten, etwas für ihn zu unternehmen, ich komme nun seinem Wunsch nach und bitte Sie um Ihre Mithilfe. Ich selbst kann in dieser Sache nichts tun, weil ich erst ca. dreiviertel Jahr in den U.S.A. bin und von 1924 in Mexiko gelebt habe, dorthin kam ich auch von Russland. Ich wollte Sie nun hiermit fragen, ob Sie in Ihrer Kirchengemeinde oder sonstwie, das nötige Geld zur Reise leihweise oder gespendet, beschaffen könnten.
Nun folgt eine Meldung über die Schwierigkeit, die die kanadischen Behörden sehen, um so viele tausend Einwanderer in kurzer Zeit aufzunehmen:
Dr. Anderson von Saskatchewan: „Aus humanitären Gründen drängt man sehr in mich, die Herüberbringung von 1000 mennonitischen Familien aus Russland über Deutschland nach Kanada zu erlauben; diesen Leuten soll ihr Land konfisziert worden sein und sie befinden sich augenblicklich vor den Toren Moskaus, ohne Geld und ohne Freunde.
Ich bin in autoritativer Weise darüber informiert worden, dass die Sowjetbehörden aus wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage sind, die Leute zu ernähren und dass sie sofortige Verbannung nach Sibirien vorhaben, wo die Leute zu Grunde gehen müssten. Die deutsche Regierung will diesen Mennoniten Pässe geben, wodurch es ermöglicht würde, solche nach Deutschland zurückzuschicken, die zurückgewiesen oder später vielleicht von Kanada deportiert würden; auch will die deutsche Regierung temporär für die Leute sorgen, bis wir sie aufnehmen können.
Repräsentanten kanadischer Mennoniten werden Ende dieser Woche hier sein. Man teilt mir mit, dass sie mit dem Anerbieten von kanadischen Mennoniten kommen, die in Kanada Farmen betreiben, ihre Türen diesen ihren in Not befindlichen mennonitischen Brüdern zu öffnen und sie zu erhalten, bis die Arbeit im nächsten Frühjahr beginnt.
.... aber ich habe nicht versprochen, diese Familien aufzunehmen. Soweit ich berichte, sind diese Leute, ebenso wie die, welche in den letzten Jahren gekommen sind, willig, sich den kanadischen Schulgesetzen zu fügen.
Wollen Sie bitte mir mitteilen, ob Sie es für ratsam ansehen, die Herüberbringung unter den angegebenen Umständen zu gestatten. Ich erwarte nicht, dass Ihre Gemeinden irgendwelche Verantwortung übernehmen und werde versuchen, die Herüberbringung so einzurichten, dass die Arbeitslosigkeit nicht dadurch erhöht wird.“ (ges.) Robert Forke.
1929-11-20
Man sieht wie der Gouverneur helfen will, aber nicht weiss, wie er es tun soll. Ebenso stellt man fest, dass diese Frage nicht von der Zentralregierung des Landes beschlossen wird, sondern von der lokalen Verwaltung dieses Bundeslandes, wo schon viele andere Mennoniten wohnen.
Saskatchewan liegt im Zentrum Kanadas.
Moskau plündert die auswandernden Mennoniten.
Kiel, Deutschland. Hier sind 383 Frauen, Männer und Kinder, Angehörige einer deutschen Mennonitenkolonie aus Russland über Riga eingetroffen. Sie sind Mennoniten, deren Vorfahren vor 150 Jahren nach Russland ausgewandert sind.
Sie hoffen, sobald als möglich nach Kanada und in die Vereinigten Staaten auszuwandern, indessen sind die Verhandlungen mit den Behörden noch nicht so weit gediehen, dass die Ausreise erfolgen kann.
Die Mennoniten sind ohne Nahrung und Geld, da die russischen Behörden ihnen mit der Begründung: „Nackt seid ihr gekommen, nackt sollt ihr wieder gehen“, alles Geld für Visa und dergleichen abgenommen haben.
Über 12.060 deutsche Mennoniten leben in der näheren Umgebung Moskaus in elenden Hütten. Fast jeden Tag kommen Neuankömmlinge aus allen Teilen Russlands hinzu, denn alle deutschen Mennoniten Russlands wollen das Land verlassen, das sie vor 150 Jahren aus Einladung der Kaiserin Katharina II. betreten haben.
Fast ein Jahr lang widersetzte sich Moskau ihrer Ausreise und verlangte von ihnen die Visa; kürzlich empfing indes Präsident Kalinin eine Delegation der Mennoniten und forderte sie auf, wieder in ihre Dörfer zurückzukehren, doch die Mennoniten sagten ihm, sie wollten lieber in Moskau verhungern, als zurückzugehen.
Die deutsche Botschaft in Moskau griff ein und erreichte es, dass 300 Mennoniten die Erlaubnis gegeben wurde, das Land zu verlassen; wohl über 90.000 andere dürften in den nächsten Jahren folgen.
Durch die Revolution wurde den Mennoniten fast aller Grundbesitz fortgenommen. Die Steuerschraube wurde angezogen und die Regierung hinderte sie an der Ausübung ihrer religiösen Pflichten. Ihre Schulen wurden geschlossen und sollten nur dann wieder geöffnet werden, wenn Kommunisten als Lehrer angestellt würden.
Da fassten die Mennoniten den Entschluss, auszuwandern und setzten sich mit den Mennonitenkolonien in den Vereinigten Staaten und in Kanada in Verbindung.
Doch Russland ließ sie nicht gehen und nimmt ihnen jetzt 200 bis 600 Dollar für jeden Ausreiseerlaubnisschein ab (oder, in Wahrheit alles, was sie haben). – Wahrheitsfreund.
1929-11-20
„Nackt seid ihr gekommen, nackt sollt ihr wieder gehen“, sagten die sowjetischen Beamten, um ihre böse Tat zu rechtfertigen. Es stimmt zwar, dass viele Mennoniten 1879 mittellos nach Russland gekommen waren. Aber in 150 Jahren hatten sie einen gehörigen Beitrag für ihre neue Heimat geleistet. Davon aber wollten die Kommunisten nichts wissen, die bekanntlich nie genug Geld einheimsen können.
"12.060 deutsche Mennoniten leben in der näheren Umgebung Moskaus in elenden Hütten". Diese Zahl könnte wahr sein. Und jeden Tag kamen mehr.
Eine sowjetische Autorität wollte die Mennoniten zurückschicken. Diese aber sagten es ihm unverblümt, "sie wollten lieber in Moskau verhungern, als zurückzugehen."
Die MR schätzt, dass "90.000 andere in den nächsten Jahren folgen" könnten. Eine unvorstellbare Zahl.
Deutschland erbarmt sich der hungernden Kolonisten
Berlin, 20. November.
Die Nachricht, dass die Behörden Sowjetrusslands 2000 der 13.000 deutschen Kolonisten, die vor Moskaus Toren hungern und darben und auf die Ausreiseerlaubnis warten, ergriffen haben, um sie nach Sibirien zu verschicken, hat in Deutschland allgemeine Erregung ausgelöst und zu diplomatischen Schritten der deutschen Regierung geführt.
Rege Anteilnahme herrscht überall in deutschen Landen für die Nachkommen der deutschen Kolonisten, die vor 150 Jahren nach Russland auswanderten und von Katharina II. Land zugeteilt bekamen. Diese Kolonisten sind zum größten Teil Angehörige religiöser Sekten, von denen die Mennoniten-Sekte die stärkste ist. Aber auch Lutheraner und Katholiken befinden sich unter ihnen.
1929-11-27
Am 20. November erfährt man in Berlin, dass die russischen Behörden tausende nach Sibirien verschicken will. Deutschland selbst steckt in den Jahren in einer grossen finanziellen Krise mit tausenden Arbeitslosen. Die deutsche Regierung ist so schwach, dass sie im Jahre 1933 von Hitler abgelöst werden wird.
Es grenzt an ein Wunder, dass man trotzdem die Mittel aufbrachte, um diesen bedrängten vor Moskaus Toren zu helfen.
Seit Wochen schon sitzen sie hungernd und frierend in armseligen Baracken vor Moskaus Toren und warten darauf, dass sich jemand ihres Elends erbarmt.
Diese Zeile beschreibt genau die Lage, wie sie mir von meinen Eltern berichtet wurde.
Berlin, [Datum].
Ihnen ist nunmehr Hilfe durch die deutsche Regierung gekommen; nachdem der amtierende russische Außenminister Karakhan persönlich nach Berlin kam, um diese Angelegenheit, die zu einer Spannung zwischen Moskau und Berlin geführt hat, zu regeln, hat der deutsche Botschafter in Moskau, Herr von Dirksen, den Auftrag erhalten, mit den russischen Behörden zwecks Überführung der Kolonisten auf deutsches Boden Rücksprache zu nehmen.
Bereits haben 2000 der Kolonisten Ausreisevisa erhalten und werden in dieser Woche noch in Deutschland eintreffen. Sie werden temporär in dem früheren Gefangenen- und späteren Flüchtlingslager Hammerstein, bei Schneidemühl untergebracht werden. Dort ist noch Platz für weitere 3000 Kolonisten.
600 deutsche Kolonisten, die in Leningrad auf die Ausreisebewilligung warten, werden nach Hamburg gebracht und von dort nach Brasilien befördert.
D Plötzlich taucht der Name "Brasilien" auf. Es hat sich wohl mittlerweile geklärt, dass Kanada nicht so viele Tausend Einwanderer aufnehmen kann. Warum Argentinien als Zufluchtsort nicht mehr genannt wird, wird auch nicht mitgeteilt.
Hindenburg gibt
Gestern beschäftigte sich das Reichskabinett mit der Lage der Emigranten; man bewilligte 700.000 Mark zur Linderung der Not der deutsch-russischen Kolonisten und wird den Reichstag um weitere Bewilligung bitten, auf dass ein Fonds in Höhe von 5 Millionen Mark zur Hilfsleistung bereit steht.
Gleichzeitig hat Reichspräsident von Hindenburg 200.000 Mark aus seinem Dispositionsfonds zur Verfügung gestellt; diese Summe bildet den Anfang einer Sammlung in ganz Deutschland, die von dem Deutschen Roten Kreuz zur Linderung der Not der Auswanderer vorgenommen wird.
1929-11-27
Hindenburg, ein hoher General des ersten Weltkrieges, wurde nach Abdankung des Kaisers als Reichspräsident(1925-1934) gewählt. Der regierende Kanzler war abhängig von der jeweiligen Abgeordneten Mehrheit, die er zusammenbringen konnte. Der Präsident aber hatte eine festgelegte Amtszeit.
Schwierige Zeiten in Russland
Es sind keine guten Nachrichten, die aus Russland kommen. Unser Volk dort muss schwere Zeiten durchmachen. Doch wir wissen, dass der Herr noch am Ruder sitzt und der Regierende der Welt ist. Auch wenn die Völker toben und wie in Russland seinen Namen ausrotten wollen, der im Himmel sitzt, lacht ihrer. Ja, Er wird einst mit ihnen reden in Seinem Zorn, denn unser Herr und Meister ist der Sieger und wird auch Sieger bleiben.
Meine Lieben sind auch noch dort und gegenwärtig in Moskau, warten auf die Pässe. Haben Hoffnung, dass sie die Pässe bald erhalten werden. Der Herr kann und wird es geben, wenn es Sein Wille ist, denn wenn Er erst sagt „Gebt“, dann können sie die nicht mehr zurückhalten.
Ich möchte einige Auszüge aus ihren Briefen folgen lassen. Vater schreibt: „Wir sind jetzt alle in Moskau auf dem Wege nach Amerika. Kamen hier den 10. September an. Wohnen in 2 kleinen Stuben zu 24 Seelen. Wenn wir uns schlafen legen, ist der Platz gefüllt. Zahlen 45 Rubel für die kleine Wohnung. Gegenwärtig sind hier 200 Familien, das war anfangs September, es kommen aber immer mehr; die Plätze oder Wohnungen überfüllen sich. Alles will weg."
Brot bekommen sie auf Karten. Roggenbrot das Kilo 11 Kopeken, Schwarzbrot 14 und Weißbrot 32. Wenn sie Fleisch kaufen wollen, müssen sie 15 Rubel einzahlen, dann bekommen sie ein Buch mit Karten und können an gewissen Tagen etwas kaufen. Gries und Kartoffeln auch nur gewisse Mengen.
Den 20. Oktober aus Vaters Brief: "Hier sind jetzt schon über 500 Familien. Die Brotfrage fängt an schwer zu werden. Gebe der Herr, dass wir bald die Pässe bekommen und fahren können."
3 Tage später aus einem Brief: 100 mehr Familien angekommen. Einige haben kein Geld, hatten eben genug, um bis hierher zu kommen. Sind in zehn Gruppen geteilt und schaffen mit den Pässen. Sie sind in der ersten. Haben mir nicht geschrieben, wie viel in einer Gruppe sind. Mein Bruder schreibt, wenn alle dort wüssten wie es hier ist, würde es gut sein. Oh Freunde, hier in Canada und in den Vereinigten Staaten, helft den Armen, denn viele hungern in Moskau. Sie schaffen mit den Pässen, doch es geht nur langsam. Am 12. Oktober schreibt mein Bruder, dass wie es scheint, sie die Pässe als Arbeiter zu 50 Rubel geben. Immer mehr kommen von Sibirien, Krim und Orenburg. Viele vertriebene Prediger. Man gab ihnen Hoffnung, dass sie bald die Pässe erhalten würden.
Vater schreibt dann in einem Brief, dass von Orenburg und anderen Gegenden traurige Nachrichten kommen. Religion soll ganz ausgerottet werden, und es soll geschehen, ehe der erste Schnee fällt. In einem anderen Brief heißt es, dass man sagt, es seien schon 800 Familien in Moskau und es kommen noch immer mehr. Es ist wunderbar, wie unser Volk zusammenhält. Er schreibt, sobald sie die Pässe haben, wollen sie telegraphieren. Den Brief erhielt ich den 29. Oktober. Um 9 Uhr abends nun läutet die Türglocke und ein Bote bringt ein Telegramm für mich.
In dem Kabel standen nur drei Worte: „Wir alle kommen.“ Ja meine Lieben, 24 Seelen, sind alle auf dem Wege. Unserem Gott die Ehre. Sie haben 6 Wochen in Moskau warten müssen. Einige müssen viel länger warten. Gebe der Herr, dass auch die anderen alle kommen können und wenn sie hier sind, ihr Brot haben. Grüßend Aganetha Neufeld.
1929-11-27
Riga, Lettland, den 18. Oktober 1929
... Als wir von Moskau wegfuhren (12. Oktober), lagen da schon über 800 Familien von unseren Mennoniten, und das auch nur zu 4 Personen in der Familie gerechnet, gibt schon über 3200 Seelen. Und es kommen noch alle Tage sehr viele an, so dass man mit Zittern in die Zukunft schaut! Wie wird das noch enden?! Denn es sind viele, die haben keine Mittel zum Leben, viel weniger noch die Pässe auszulösen. Dann sind auch viele, die hätten zu den Pässen, wenn sie die gleich erhielten; weil aber noch keine Aussichten waren, als wir wegfuhren, so verleben sie dasselbe und wenn es endlich die Papiere geben sollte, sitzen sie wieder fest.
Es sind freilich auch solche, die auf etliche Monate Lebensmittel und auch noch Geld für die Pässe haben werden. Das ist aber der kleinere Teil. Wie es mit denen sein soll, die nicht die Mittel haben, das weiß Gott allein. Und im Auftrag vieler unserer Brüder schreibe ich dieses und die Bitte der Brüder: „Sag doch dort in Amerika, wie es uns geht und wie es hier steht und bitte die Mennonitenbrüder, ob sie nicht irgendeinen Ausweg wüssten oder Hilfe senden könnten. Denn die Lage vieler ist verzweifelt böse, denn kein Heim zu haben, auch kein Geld zum Leben und auch nichts zu verdienen. ...
„Ja“, wird vielleicht mancher sagen, „warum sind die Leute so töricht und stürzen sich selbst ins Unglück?“ Da kann ich so viel sagen, und das würden auch die Meisten zur Antwort geben: „Verloren sind sie so wie so, wenn sie auch sitzen geblieben wären.“ In Moskau sind unter den Flüchtlingen solche, die dasselbe faktisch erfahren haben: weil sie Prediger waren, wurde ihnen das Stimmrecht genommen und folgedessen so viel auferlegt, dass sie dasselbe unmöglich zahlen konnten. Dann wurde ihnen alles Vermögen verkauft und sie selbst aus ihrer Wirtschaft vertrieben. Das war die Tatsache, das war das Los sehr, sehr vieler und treibt unsere armen Mennoniten zur Flucht. Denn es ist eine formelle, panische, unnormale Flucht, wo aber die wirkliche Not zu treibt.
Es sind die, die in Moskau sitzen, so zu sagen alle unsere Vordermänner. Da sind Älteste und Prediger aus den Gemeinden und von unseren ersten Bauern. Dann aber, was wird das Los derer sein, die da zu lange gewartet haben und jetzt nicht mehr fort können? – Derer wartet, wenn sie nicht Hungers sterben wollen, dass sie sich unbedingt in ein Kollektiv oder eine Kommuna einschreiben lassen müssen. Und wer das Programm kennt, weiß das Ende davon: entweder vom Glauben abtreten oder sie würden über kurz oder lang wieder ausgeworfen und sind sie dann wieder bis unterm freien Himmel ohne Obdach und ohne Brot! Also kein anderer Ausweg!
1929-11-27
Obwohl ich meine Eltern manchmal darüber befragt habe, ist es mir doch nicht klar, wie diese mittellose Flüchtlinge überlebt haben. Im obigen Text heisst die Klage: "die Lage vieler ist verzweifelt böse, denn kein Heim zu haben, auch kein Geld zum Leben und auch nichts zu verdienen."
Wie gross wohl wird die Not gewesen sein, wenn der Schreiber sagt: „Verloren sind sie so wie so, wenn sie auch in der Kolonie geblieben wären.“ "Was wird das Los derer sein, die da zu lange gewartet haben und jetzt nicht mehr fort können?"
Riga Lettland
"Wir haben immer noch unsere 35 Kinder, mit denen wir so eng verbunden sind. Zu all der Sorge für diese Kleinen ist seit einigen Wochen noch eine neue Sorge dazugekommen. Und zwar die für die Mennoniten, welche von Russland kommen und hier auf ihrem Weg nach Kanada aufgehalten werden. Einige sind schon 6 Wochen hier, andere kürzer. Gestern sind wieder einige Familien weitergefahren. Von den 140 Seelen, die Ende September hier waren, sind jetzt noch etwa 70 hier. Diese haben zum Teil gar nicht daran gedacht, dass sie in den kalten Winter hineinkommen würden, meinten, sie würden dann schon in Amerika sein. Aber sie müssen eine große Geduld lernen. Nun sind meine Frau und ich schon des Öfteren im Hamburger Auswandererheim gewesen, um ihnen Sachen zu bringen. Auch haben wir des Öfteren Versammlungen abgehalten. Gott gibt doch immer wieder Kraft und Trost.
Wie uns hier mitgeteilt wird, sind in Moskau noch einige hundert Familien, die auf die Ausreise warten. Hoffentlich können die bald weiter. Es legt sich dabei so eine furchtbar schwere Last auf meine Seele, wenn ich an diesen Schicksalsweg unserer Glaubensbrüder denke. Aber hierin muss sich ja nun unser Glaube an den lebendigen Gott offenbaren. Wenn ich hier und da den unwissenden Deutschen erzähle, dass die Mennoniten Amerikas für diese Auswanderer eintreten und schon viele Tausende hinübergeholfen haben, dann staunen sie und meinen, das könnte man kaum fassen. Diese tätige Liebe hat schon manche zum Staunen gebracht. Möchte es auch weiterhin so bei unseren Mennoniten bleiben und möchte die Liebe noch reifer und tiefer werden."
1929-11-27
Saskatchewan und die Mennoniten
Von Regina, Saskatchewan, wird mitgeteilt: Der mennonitische Bischof Töws von Roithern hatte eine längere Konferenz mit Premier Hon. T. M. Anderson und Mitgliedern seines Kabinetts, auf welcher die Frage der "Zuerlassung" der gestrandeten russischen Mennoniten besprochen wurde.
Nach der Konferenz schickte der Premierminister den folgenden Brief an Bischof Töws, von welchem Brief eine Abschrift an den Einwanderungsminister Hon. Robert Yorke gesandt wurde:
"Bischof Töws: Nord-Saskatchewan.
"In Hinblick auf die Frage der Einlassung einer Anzahl Mennonitenfamilien aus Russland, um sich in Saskatchewan zur jetzigen Zeit niederzulassen, möchte ich Ihnen folgenden Entschluss der Saskatchewan Regierung mitteilen:
"Wir wünschen zu konstatieren, dass wir die vielen guten Eigenschaften unserer bisherigen deutschen Ansiedler anerkennen. Die meisten von ihnen sind dabei, gute und gesetzestreue Bürger zu werden. Wir fühlen, dass wenn diese Bürger andere Verwandte haben, welche nach dieser Provinz kommen möchten, dass ihre Wünsche Berücksichtigung finden sollten. Aber wir müssen darauf bestehen, eine Liste dieser Verwandten mit allen Einzelheiten betreffend des Alters, des Geschlechts, des Berufs usw. zu bekommen. Wir ersuchen weiter die Dominion Regierung zu garantieren, dass, wenn diese Leute in die Provinz gebracht werden sollten, sie nicht später den Behörden zur Last fallen.
"Wir werden die Dominion Regierung auch bitten, uns die Garantie zu geben, dass sie alle Unkosten bestreiten wird, wenn späterhin vielleicht Deportationen notwendig werden sollten. Zur gegenwärtigen Zeit haben wir ein Arbeitslosenproblem in Saskatchewan, das in den nächsten Monaten wahrscheinlich noch schwieriger werden wird. Dazu kommt, dass wir bereits 500.000 ausgegeben haben in der Beschaffung von Extra-Arbeit und Nothilfe infolge der schwachen Ernte in gewissen Gegenden der Provinz.
T. M. Anderson, Premier von Saskatchewan."
1929-11-27
Die Mennonitische Rundschau war damals ein Blatt, das in wöchentlichen Ausgaben die Mennoniten der ganzen Welt verbunden hat. Da waren die in Preussen gebliebenen Mennoniten, die nicht nach Russland ausgewandert waren, dann waren jene die 1870 und folgende Jahre von Russland nach Kanada und in die USA ausgewandert waren und die große Gruppe derer, die in Russland geblieben waren. Und die Rundschau war das Verbindungsglied aller.
Als nun die Krise von 1929 ihren Höhepunkt erreichte, wurden der Rundschau Briefe und Berichte zugeschickt und somit kann man mit authentischem Material Einblick erhalten, wie es damals tatsächlich zuging.
Einige dieser Berichte veröffentliche ich nun in einigen Ausgaben. Darunter steht immer das Datum, in dem der jeweilige Bericht in der Rundschau veröffentlicht wurde.
Zu Beginn, in der Ausgabe vom 27. November 1929, sehen wir die verängstigte Reaktion Kanadas auf den Andrang tausender Mennoniten, die nach Kanada wollen:
Was einige westkanadische Zeitungen zu der Frage der Einwanderung tausender Mennoniten sagen:
„In weiten Kreisen ist gegenwärtig eine gewisse Feindseligkeit gegenüber einer Masseneinwanderung zu spüren; besonders stark ist sie gegen solche aus Osteuropa. Es ist klar, dass ein Teil der Bevölkerung es für selbstverständlich finden würde, wenn die Regierung das Bitten um Einlass negativ beantworten sollte.
Die um Einlass Bitten sind nicht nur fleißig, sondern auch anpassungsfähig. In den letzten fünf Jahren sind recht viele Mennoniten in Kanada eingewandert. Sie haben Arbeit gefunden und sind nun zum größten Teil auf erworbenen Farmen tätig, ohne irgendwelche Störungen hervorzurufen. Die Mennoniten sind holländischer und deutscher Abstammung.
1929-11-27
Es geht dem Winter aufzu. Die Bevölkerung Kanadas befürchtet Arbeitslosigkeit, wenn so viele verarmte Einwanderer aus Russland kommen.
Premier Brownlee befürchtet Arbeitslosigkeit.
... Das alles macht die Lage sehr schlecht für die Unterbringung von einigen Tausend Neuankömmlingen, die weder Geld noch Güter mitbringen können.
1929-11-27
Deutschland selbst hat in diesen Wochen mit sich selbst zu tun, denn die Arbeitslosigkeit ist riesenhaft gewachsen, die Regierenden wechseln ständig und keiner weiß einen Ausweg. Das geht solange bis Hitler 1933 an die Macht kommt.
Trotz eigener Probleme nimmt die Bevölkerung Anteil am Kummer der bedrängten Deutschen in Russland. Die MR gibt unten einen Bericht einer deutschen Zeitung wieder:
Berlin, 20. November.
Die Nachricht, dass die Behörden Sowjetrusslands 2000 der 13.000 deutschen Kolonisten, die vor Moskaus Toren hungern und darben und auf die Ausreiseerlaubnis warten, ergriffen haben, um sie nach Sibirien zu verschicken, hat in Deutschland allgemeine Erregung ausgelöst und zu diplomatischen Schritten der deutschen Regierung geführt.
Rege Anteilnahme herrscht überall in deutschen Landen für die Nachkommen der deutschen Kolonisten, die vor 150 Jahren nach Russland auswanderten und von Katharina II. Land zugewiesen bekamen. Diese Kolonisten sind zum größten Teil Angehörige religiöser Sekten, von denen die Mennoniten-Sekte die stärkste ist. Aber auch Lutheraner und Katholiken befinden sich unter ihnen. Wirtschaftliche Not und auch die Behinderung in der Ausübung ihres religiösen Bekenntnisses zwangen einst die Vorfahren dieser Kolonisten auszuwandern in die weiten Steppen Russlands.
Wirtschaftliche Not und der Sowjet-Terror haben dazu geführt, dass ihre Kindeskinder ihre Ansiedlungen verließen und nach Moskau zogen, um lieber dort zu sterben, als nach daheim zurückgeschickt zu werden.
Die Auswanderer haben Beziehungen mit Kanada und Argentinien angeknüpft und warten nur auf das Ausreise-Visum, das Russland ihnen verweigert. Alle Drohungen der russischen Behörden haben nichts gefruchtet; die deutschen Kolonisten beharrten darauf, Russland zu verlassen. Seit Wochen schon sitzen sie hungernd und frierend in armseligen Baracken vor Moskaus Toren und warten darauf, dass sich jemand ihres Elends erbarmt.
In Deutschland können diese Auswanderer aus Russland nicht bleiben. Sie müssen weiterbefördert werden. Wohin? Man zieht auch Argentinien in Betracht, damals ein ebenso reiches Land wie Kanada, mit Temperaturen, die für diese Mennoniten passend wären.
Bereits haben 2000 der Kolonisten Ausreise-Visa erhalten und werden in dieser Woche noch in Deutschland eintreffen. Sie werden temporär in dem früheren Gefangenen- und späteren Flüchtlings-Lager Hammerstein, bei Schneidemühl untergebracht werden. Dort ist noch Platz für weitere 3000 Kolonisten.
600 deutsche Kolonisten, die in Leningrad auf die Ausreise-Bewilligung warten, werden nach Hamburg gebracht und von dort nach Brasilien befördert.
Die regierenden Kanzler in Deutschland haben in diesen Jahren oft gewechselt. Der Präsident Hindenburg stand als vereinigende Vaterfigur immer über den Wirren der Zeit.
Gestern beschäftigte sich das Reichskabinett mit der Lage der Emigranten; man bewilligte 700.000 Mark zur Linderung der Not der deutsch-russischen Kolonisten und wird den Reichstag um weitere Bewilligung bitten, auf dass ein Fonds in Höhe von 5 Millionen Mark zur Hilfeleistung bereit steht.
Gleichzeitig hat Reichspräsident von Hindenburg 200.000 Mark aus seinem Dispositions-Fonds zur Verfügung gestellt; diese Summe bildet den Anfang einer Sammlung in ganz Deutschland, die von dem Deutschen Roten Kreuz zur Linderung der Not der Auswanderer vorgenommen wird.
Eine kanadische Zeitung hat einen Bericht gebracht, wonach in Moskau versammelte Mennoniten eine Terroraktion unternommen haben sollen, um aus Russland rauszukommen. Die Rundschau reagiert auf die Nachricht:
In der Winnipeg Evening Tribune vom 23. November lesen wir eine Nachricht aus Riga, dass die Mennoniten, die von der Sowjet-Regierung zurück nach Sibirien geschickt werden sollten, sich zusammengeschlossen und zwei Fabriken demoliert hätten, worauf die Regierung beschlossen habe, den Flüchtlingen die Ausreise zu erlauben.
Ich glaube nicht, dass sich unser Volk dieses hat zu Schulden kommen lassen, denn sie sind betend und bittend nach Moskau gekommen. Eine Anzahl haben schon Russland verlassen auf dem Wege nach Deutschland. Am 2. November hat die Sowjet Eisenbahnverwaltung die Litauische Eisenbahnleitung benachrichtigt, dass 2500 Deutsche von Sibirien bereit sind, durch Litauen nach Deutschland transportiert zu werden. Die Mehrzahl der Deutschen seien Mennoniten.
1929-11-27
Es folgt das Zeugnis eines Mennoniten, der aus Russland rausgekommen ist:
Der Herr hat uns auch in dieser Zeit wunderbare Wege geführt, aber dennoch sind wir Gott dankbar, dass Er uns aus Russland herausgebracht hat, denn ich glaube ganz fest, dass ich auch hinter Schloss und Riegel gekommen wäre, weil ich viele Jahre in der Sonntagsschule gearbeitet habe.
1929-11-27
Prediger Heinrich Janzen ist es gelungen rauszukommen. Von Kanada aus beschreibt er nun, wie es ihm gelungen ist, Russland zu verlassen.
"Wir haben eine Zeitlang, etwa 10 Jahre, in der Orenburger Ansiedlung im Dorf Aunit gewohnt und danach 20 Jahre in Sibirien im Slawgorodschen Kreis. Erst 17 Jahre in Schönwiese und zuletzt 3 Jahre in Gnadenheim. Und weil die Verhältnisse in Russland und besonders in Sibirien gegenwärtig so unaussprechlich traurig sind, besonders für Prediger des Evangeliums, und ich in diesem Beruf den Gemeinden in großer Schwachheit viele Jahre gedient hatte, so kam man bei der kommunistischen Regierung in besonderer Weise in Betracht.
In Halbstadt, Sibirien, wo man jetzt eine Polizeiabteilung hat, steht auf einer großen Tafel, die in ihrer Kanzlei an der Wand hängt, geschrieben: "Gehörigen Widerstand leisten gegen alle Pfaffen jeglicher Nationalität." Bei diesen Unmenschen bin ich als Leiter der Gemeinde oft im Verhör gewesen und man hat unser Haus ganz durchstöbert, um etwas Verdächtiges zu finden, um mich einstecken zu können.
Doch der Herr hat letzteres nicht zugelassen und gab uns ins Herz, mit der Auswanderung nach Kanada zu wirken. Als wir in Slawgorod um die Auslandspässe wirkten und selbige nicht erhielten, zogen wir im März Monat nach Moskau, wo wir nach fünfmonatlichem Wirken unter vielen Kämpfen eine unverdiente Gebetserhörung machen durften, da der Herr uns die Pässe zukommen ließ.
Wohl zwanzig Familien hatten vor uns die Pässe bekommen und wir gehörten zu der zweiten Gruppe, welche aus 25 Familien bestand. Drei Familien mussten in Moskau wegen Gesundheitsgründen vorläufig zurückbleiben und 22 Familien durften am 30. August von Moskau abfahren, nach Kanada. Aber leider gab es in Hamburg, wo wir ärztlich untersucht wurden, noch einen Schmerz. Die halbe Gruppe, 11 Familien, mussten zurückbleiben. Möge der Herr, dem es ein Leichtes ist, jede Krankheit zu heil, die Lieben auch bald herführen.
Drei unserer Töchter, welche verheiratet sind, sind noch in Russland, die dritte ist mit ihrem Mann in Moskau und wartet mit vielen anderen, wohl schon 250 Familien, wann sie das Wasser bewegen möchte.
Den Predigern, welche nicht gleich im Frühling die Ansiedlung verließen, auch vielen anderen, hat man viel weggenommen, so dass manche schon nicht einmal bis Moskau fahren können, dort noch eine Zeitlang leben und auch die Pässe, welche 220 Rubel kosten, bezahlen können. Wer noch ein paar Rubel übrig hat, kann selbige doch nicht über die russische Grenze nehmen, so dass wir hier alle ganz arm angekommen sind. Dazu ist der Winter vor der Tür und schon nicht Arbeit zu finden. Aber der Herr verlässt ja die Seinen nicht.
Nun, ich glaube, alle Leser dieser unvollkommenen Zeilen finden Stoff genug, für die in Russland weilenden Mennoniten, unsere Brüder und Schwestern, zu beten, dass der Herr noch viele herausführen und die Lage der Dortbleibenden ändern möchte, und uns hier zum Segen setzen.
Unsere Adresse ist: Goldale, Alta., Box 126. Heinrich Janzen.
1929-11-30
Janzen hatte also seinen Heimatort schon im März verlassen, um ein Ausreisevisum zu erhalten. Sie waren diesbezüglich 5 Monate in Moskau. Ihm ist aber schwer, denn seine drei Töchter sind noch in Russland.
Einige Kurznachrichten, die in der Ausgabe vom 30. November veröffentlicht wurden. Geschrieben wurden sie also schon mindestens 2 Monate vorher. Sie geben Einblick wie schlimm es in den Mennonitendörfern zuging:
- In Non Wassiljewka, einem mennonitischen Dorf in Südrussland, erreicht die Nachricht, dass ihnen alles abgenommen und das ganze Dorf umgesiedelt wird.
- In Russland wurden weitere 21 Personen als Feinde der Sowjets hingerichtet.
- Die letzten Nachrichten von der Krim lauten, dass man den Leuten alles Getreide abverlangt, sogar den ungeschälten Weizen in Kolben. Aus Sibirien erwartet man heute oder morgen etwa 350 Personen. Die Lage ist dort noch schwerer als in Südrussland.
- Aus Ontario, Kanada, erhielt ich dieser Tage die Nachricht, dass man dort an einem Ort jeden Mittwoch zu einer Gebetsstunde für Russland zusammenkommt. Sollten wir nicht auch, öffentlich und zu Hause im Kämmerlein, viel für diese gedrückten und verfolgten Glaubensgenossen beten? Dann aber auch helfen, so weit Hilfe möglich ist.
1929-11-30